Fotos werden heutzutage in der Regel gemacht. So wie man Urlaub macht, Essen macht, Liebe macht. Irgendwie nebenbei, es braucht nicht einmal ein eigenes Verb für diesen Akt. Nur die Paparazzi erinnern noch an die rohen Anfänge, indem Sie nach Bildern Prominenter jagen, indem sie Bilder schießen und die Beute sofort an die nächste Agentur verkaufen.
Jagd, Jagdtrieb und kapitalistischer Warenverkehr sind im Tun der Paparazzi in schöner Offenheit vereint, eher Kriegberichterstattung als Kunst. (Viele Geräte aus dem Bereich Kommunikation entstammen bekanntlich militärischer Forschung)
Ansonsten wird meist nur noch gemacht. Der Fotoapparat des modernen Menschen ist ja auch kein Jagdinstrument mehr, oft nur noch ein Designobjekt, das hauptsächlich zum Kommunizieren genutzt wird. (Angeblich sollen im Jahr 2014 etwa 880 Milliarden Fotos geknipst worden sein. Wer auch immer das gezählt hat, ein paar Milliarden mehr oder weniger, die Zahlen sind ohnehin so unvorstellbar, dass man es ohne weiteres glaubt. Zum Glück gibt es inzwischen schon Apps, die ein Foto mit einer Lebensdauer versehen)
Zum Glück aber gibt es nicht nur Jäger sondern auch Sammler.
Zu ihnen gehört Michael Schreiner. Jedenfalls was sein fotografisches Leben betrifft. Mit dem selben Gerät, mit dem andere schießend auf Beutejagd gehen, sammelt er friedlich die Früchte seiner täglichen Wahrnehmung. (Friedlich stimmt für den Fotografen, nicht immer jedoch für das Umfeld: nicht selten sieht sich der Sammler argwöhnischen bis aggressiven Blicken von Menschen ausgesetzt, die sich davon gestört fühlen, wenn jemand etwas fotografiert, was ihnen als Motiv nicht einleuchtet, ja nicht einmal auffällt.
Was soll das sein - ein Stück Papier im Rinnstein? Ein Schatten an der Wand? Wenn jemand wegen solcher Gewöhnlichkeit auffällig wird, dann vermutet der gewöhnliche Passant schnell Böses.
Michael Schreiner lässt sich nicht beirren. Er gehört zur Subspecies der Sammler die nicht sucht sondern findet. Die Fundstücke sind einfach da und der Sammler weiß bei ihrem Anblick sofort, dass er danach gesucht hat. Der Sammler ist nicht interessiert an blutigen Beutestücken oder repräsentativen Jagdtrophäen. Was er mitnimmt, ist ein Bild, eine technische Verschmelzung von Objekt und Objektiv im Moment der Aufnahme, die ja immer den technischen Vorgang meint und zugleich das Ergebnis.
Die Aufnahme ist zum großen Teil bewusst gesteuert. Abgesehen von der technischen Einrichtung des Apparats müssen schnell und effizient Entscheidungen gefällt werden: Auswahl des Standpunkts, Veränderung der Distanz, Kadrierung. Die spontanen kompositorischen Selektionen sind in diesem Fall engültig, fast schon wie in analogen Zeiten: der Ausschnitt, das Bildformat, die Lichtverhältnisse müssen stimmen, denn eine nachträgliche Veränderung der Daten in einem Bildbearbeitungsprogramm ist tabu.
Kadrierung, Schärfentiefe, Brennweite, Belichtungszeit bleiben also wesentliche Faktoren jeder Aufnahme. Aber entscheidend ist dennoch die Einstellung des Fotografen Michael Schreiner, seine Haltung der Welt, dem Fotografieren und dem Foto gegenüber.
Ihm geht es nicht um das einmalige Einzelbild (obwohl auch eine ganze Reihe wunderbarer Einzelbilder in der Sammlung enthalten sind), er versucht nicht, den wahren Moment abzupassen (obwohl er auch dafür ein Gespür hat, zB in den Schattenbildern), auch eine etwaige Pointe ist nicht Ziel der Aufnahme (obwohl man auch hier fündig wird). Vielmehr geht es Michael Schreiner darum, die Welt und ihre Dinge neu zu erfinden, indem er darauf besteht, dass sie es wert sind, ohne Vorurteil wahrgenommen zu werden. In dieser Emphase entwickeln die Gegenstände Kraft, zeigen sich aus neuer Perspektive, präsentieren stolz ihre Texturen und spielen Hauptrollen in Szenen eines bunten Straßentheaters.
Viele Sammlungen (und schließlich kann alles gesammelt werden) erschöpfen sich in der Menge ihrer Einzelteile. Dem Betrachter stellt sich dann meist die Frage, was das mit ihm selbst zu tun haben könnte, was da über das Mikroskopische des Einzeldings oder die Totalität der Serie hinaus zu sehen und zu denken möglich ist.
In Michael Schreiners Sammlung wird kein einzelnes Teil als besonderes hervorgehoben. Keines wird als Schmuckstück ausgestellt, keines wird zum Fetisch, weder für eine Gottheit noch als Kunstobjekt. Die Einzelfotos sind vor allem Belege einer künstlerischen Haltung und Position.
Jedes für sich und alle in Serie sind ein bewusster Akt der Poetisierung; ein Akt, der die Dinge des Alltags aus ihrem So-Sein hebt und ihnen andere Bezüge zuteilt, sie in neue Zusammenhänge stellt. Und vor allem: ihnen in den Augen des Betrachters Räume für neue Erfahrungen öffnet. Nicht die Dinge entscheiden über unser Leben, sondern wir mit unserer Fähigkeit, Fäden zwischen den Dingen zu knüpfen. Dazu müssen wir nur wach sein, die Augen offen halten. Hier geht es also letztlich um die Kunst und die tägliche Praxis der Wahrnehmung (die als Begriff die gleiche Kippfigur ist wie die "Aufnahme": aktives Tun und Ergebnis in einem).
Wie bereichernd dieses Wahrnehmen sein kann, welche Intensität und Lust das bedeutet, das zeigt Michael Schreiner, einerseits mit seiner opulenten Materialsammlung, andererseits als inspirierendes Vorbild täglichen Hinschauens.
Wolfgang Mennel, 2015